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Between the waves: Lernen aus der Coronazeit für digitale Jugendarbeit

Nach einer scheinbaren Verschnaufpause sind die Gesellschaften im deutschsprachigen Raum wieder voll von den Auswirkungen der Corona-Pandemie erfasst und ist wird höchste Zeit zu schauen, was sich denn aus den Erfahrungen des Frühjahrs für die (Offene) Kinder- und Jugendarbeit lernen lässt. Ich habe in den letzten Wochen mit vielen Jugendarbeiter_innen gesprochen, viele Studien, Reflexionen und Berichte gelesen und formuliere in diesem Beitrag ein paar Thesen aus meiner Sicht, natürlich mit Fokus auf Medien in der Jugendarbeit.
Ähnliches hat auch Renato Hüppi für seinen Arbeitsbereich gemacht und veröffentlicht seine Sicht zeitgleich im Medienblog des DOJ.

Stimmen die Thesen hier aus eurer Sicht? Was habe ich vergessen? Was sollte anders formuliert sein? Ich freue mich über Ergänzungen via Kommentar!

Ich fange mal mit Zahlen an: Die Umfrage des DOJ stellt die Rolle von Medien für die Jugendarbeit in der Coronazeit in einen grösseren Rahmen. Demnach haben 80% der befragten Fachpersonen auf zusätzliche Medienangebote gesetzt, ein Teil davon musste dabei aber bei Null beginnen. Aber auch: «Die veränderten und neuen, digitalen und aufsuchenden Angebote wurden von den Kindern und Jugendlichen in allen Phasen insgesamt gut wahrgenommen und geschätzt.» 

Es gibt also zahlreiche Gründe also zu schauen, was es denn zu beachten gibt für zukünftige Angebote unter den Bedingungen der Pandemiebekämpfung (und darüber hinaus). Ich habe viereinhalb Thesen formuliert:

1. Die Grundprinzipien von (Offener) Jugendarbeit geraten in Bedrängnis

Es gibt Stimmen, die darauf hinweisen, dass Schutzmassnahmen gegen die Pandemie wie insbesondere die zwingende Kontakterfassung Grundprinzipien der OKJA widersprechen. Ich finde das nachvollziehbar. Auch Einschränkungen bei Angeboten, um die Anwesenden besser zu kontrollieren und Hygiene- und Abstandsregeln einhalten zu können gehören dazu.

Natürlich sind diese Massnahmen im Rahmen gesellschaftlicher Solidarität generell sinnvoll, aber die Erkenntnis des Widerspruchs sollte eine zusätzliche Motivation sein, kreative Antworten zu finden, mit denen vielleicht weniger Jugendliche davon abgehalten werden die Angebote zu nutzen.

2. Zugang bzw. Niedrigschwelligkeit sind die grössten Herausforderungen

Denn unter Corona-Bedingungen zeigen sich besonders die Benachteiligungen einiger Kinder und Jugendlicher – und gerade im Lockdown war/ist ein Ausgeschlossensein besonders gravierend.

Die Benachteiligungen zeigen sich zunächst einmal bei Ausstattung und Zugang zu digitaler Infrastruktur. Es gibt nach wie vor Jugendliche, für die es nicht selbstverständlich ist, ein Smartphone oder Internetzugang zu haben. Noch weniger ist das in Familien selbstverständlich (das hat sich vor allem im Fernunterricht gezeigt, betrifft aber auch die ausserschulische Arbeit).

Aber auch sonst machen sich Abweichungen von der Normalverteilung unter Pandemiebedingungen besonders bemerkbar und führen schnell zur Ausgrenzung. ZB. körperlich beeinträchtigte, wohnungslose, lernbeeinträchtigte Jugendliche können schnell nicht von «normalen» Angeboten erreicht werden, weil sie irgendwo eine für sie riesige Hürde erfahren.

Für die Kinder- und Jugendarbeit bedeutet das, dass Prinzipien wie Inklusion und Niedrigschwelligkeit ganz besonders für (digitale) Alternativangebote bedacht werden müssen und es gut ist, dabei auch auf Details zu achten.

Aus den Erfahrungen der ersten Welle habe ich aber noch eine ganz generelle Lehre gezogen: Jugendliche und ältere Kinder sind leichter mit digitalen Alternativangeboten zu erreichen als jüngere Kinder. In der Publikation des DOJ zur Corona-Umfrage formulieren es die Autor_innen sehr treffend: «Der Kontakt zu jüngeren Kindern konnte mit digitalen Angeboten in der Lockdown-Zeit kaum aufrechterhalten bleiben. […] Kommentare von Fachpersonen in der Umfrage zeigen deutlich, wie wichtig gerade bei dieser Altersgruppe der persönliche, physische Kontakt ist» – oder der über die Eltern.

3. Beziehung ist alles

Im unterschiedlichen Erfolg der digitalen Alternativangebot unter Lockdown-Bedingungen hat sich die Qualität der Beziehungen auf digitaler und analoger Ebene bemerkbar gemacht. Wer vorher keine mediatisierte Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen gepflegt hat, hat(te) es sehr schwer, ausschliesslich auf dieser Ebene zu kommunizieren. Das gilt ganz banal für die entsprechenden Kontakte, die teilweise erst hergestellt werden mussten, aber vor allem für die Inhalte – die spezifische Kommunikationskultur, die die Inhalte prägt. Zudem, darauf weist Renato hin, ist es seiner Erfahrung nach fast unmöglich, ohne Face-to-Face-Kontakt neue Beziehungen über den digitalen Weg aufzubauen.

Für mich verweist das auf eine grundlegende Erkenntnis zur Mediatisierung: Wenn die Lebenswelt der Jugendlichen und damit auch ihr Aufwachsen mediatisiert ist, muss auch Jugendarbeit ebenso mediatisiert sein, also sowohl auf analoger wie auch auf digitaler Ebene präsent sein. Die Lockdown-Bedingungen sind natürlich relativ einmalig und werden so in Zukunft sehr selten wieder auftreten. Sie haben meiner Meinung aber gut sichtbar gemacht, dass Beziehungen sich für Jugendliche selbstverständlich auf beiden Sphären abspielen – und dass Beziehungspflege in der Kinder- und Jugendarbeit, die nur auf die nichtdigitalen Bereiche setzt, einen Teil der Kommunikations- und Beziehungskanäle ausblendet und damit Potenziale verschenkt.

Gleichzeitig ist es eine spezielle Stärke von Jugendarbeit, dass sie beinahe selbstverständlich das Digitale mit dem Analogen/Physischen verschränken kann. In dieser Verschränkung liegt ein grosses Potenzial mehr Vertrauen und «Menschlichkeit» in mediale Erfahrungen zu bringen. Darauf hat Felix Stalder vor kurzem hier hingewiesen.

4. Jugendarbeit ist (noch mehr) in Bewegung

Es wird ja immer wieder die These formuliert, dass die Pandemie bisherige Entwicklungen verstärkt hat. Nachvollziehbar finde ich das auch für die Mediatisierung der pädagosichen Arbeit. Sprich: Auch die Digitalisierung von Jugendarbeit ist noch mehr in Schwung gekommen, viele haben noch eine Schippe draufgelegt, andere haben die Motivation bekommen richtig anzufangen. Auch hier wird deutlich, auf was in Zukunft geachtet werden muss:

  • Die technische Ausstattung fehlt manchmal bis oft (dies vor allem in Deutschland). Die BAG der Landesjugendämter in Deutschland formuliert: «Die Notwendigkeit eines raschen Ausbaus digitaler Infrastruktur […] ist als eine Konsequenz unbestritten.» Es hat sich gezeigt, dass eine selbstverständliche, gut funktionierende digitale Grundausstattung auch für die Jugendförderung unabdingbar ist. Gleichzeitig ist aber wichtig, dass nun keine Schnellschüsse produziert werden, sondern diese digitale Infrastruktur gut bedacht und fachlich begleitet etabliert wird.
  • Nicht überraschend, aber überhaupt nicht selbstverständlich, formuliert die gleiche BAG weiter: «Neben der Finanzierung und Beschaffung von fehlender Technik geht es vor allem um das Erarbeiten von Methoden für einen sinnvollen, praktikablen und zugleich daten-schutzkonformen Umgang mit den neuen Kommunikationsformen.» Während der Pandemie zeigt sich meiner Meinung nach, dass es weiterhin eine Weiterentwicklung von Methoden, Konzepten und auch eine strukturierte Weiterbildungsarbeit braucht, um das schon vorhandene Wissen möglichst vielen Menschen zur Verfügung zu stellen. 

Von verschiedener Seite wird eine grosse Akzeptanz von digitalen Medien auch bei auch bei bisherigen Medienskeptiker_innen unter den Fachpersonen berichtet. Es bleibt zu hoffen, dass die Bedingungen der Pandemiebekämpfung hier Perspektiven verändert haben und damit eine gute Grundlage geschaffen ist, dass sich Kinder- und Jugendarbeit beständig, breit und angemessen Medien in ihre Konzepte und Arbeitsansätze integriert.

Weiteres

Jugendverbände berichten davon, dass Freiwillige bzw. Ehrenamtliche als Anbieter von verbandlicher Jugendarbeit weitgehend ausgefallen sind während der Lockdown-Zeit, aber auch danach. Das hat nicht nur über den Sommer zahlreiche (Ferien-)Angebote in Gefahr, sondern klassische Jugendgruppen um ihre Existenz gebracht. Es verdeutlicht nochmal die grosse Bedeutung von Freiwilligen für die Kinder- und Jugendarbeit insgesamt.

Fazit

Während des Schreibens dieses Textes ist mir immer bewusster geworden, dass an den meisten Stellen die Pandemiebedingungen grundlegende Prinzipien von Kinder- und Jugendarbeit neu bzw. auf neue Art bewusst machen! Mein Eindruck ist, dass unter normalen Bedingungen nicht so sehr deutlich wird wie bspw. während des Lockdowns, was es bedeutet, wenn Niedrigschwelligkeit nicht so gut gelingt. Die Folgen sind offensichtlicher geworden und das hat neu gezeigt, wie wichtig es ist, die eigenen Prinzipien zu verfolgen.

Das gilt auch für die Notwendigkeit einer Mediatisierung von Kinder- und Jugendarbeit im Alltag, in der Beziehungspflege, in Konzepten, in der Ausstattung – als ein Aspekt insbesondere von Lebensweltorientierung, aber auch etwa von Niedrigschwelligkeit. Insofern hoffe ich mittel- und langfristig auf zahlreiche Entwicklungsvorhaben auf den verschiedenen Ebenen.

Uli Deinet hat als erste Folgerung aus einer Untersuchung zu Kinder- und Jugendarbeit unter Coronabedingungen formuliert, dass ein Dreiklang aus Angeboten in der Einrichtung, mobiler Arbeit im öffentlichen Raum und verschränkter digitaler Arbeit wichtig ist für eine erfolgreiche Arbeit. Das gilt sicher für die Pandemiebedingungen, klingt aber auch nach einer grundsätzlichen Strategie für die Zukunft. 

Quellen

BAGLJÄ: 5 Thesen zu den Auswirkungen der Coronakrise auf Kinder und junge Menschen. http://www.bagljae.de/assets/downloads/5b362538/BAGLJ%C3%84%20-%205%20Thesen%20Auswirkungen%20der%20Coronakrise%20auf%20die%20KJH.pdf

Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ): InfoAnimation Nr. 51. OKJA und Corona: Reflexionen und Ausblick. https://doj.ch/wp-content/uploads/2020/10/info_animation_nr51_web.pdf

Evangelisches Jugendwerk Württemberg: Ergebnisse der Befragung zu Corona-Auswirkungen für die evangelische Jugendarbeit. https://www.statistik-ev-bw.de/corona/

Hochschule Düsseldorf: Neustart OKJA NRW. https://soz-kult.hs-duesseldorf.de/forschung/forschungsaktivitaeten/einrichtungen/fspe/neustart_okja_nrw

RAY-COR. Youth Work and the Corona Pandemic in Europe. https://mcusercontent.com/9486cec7b037cefbfe7f4d9db/files/a79d622a-5646-435d-98e7-c0d887fc800f/RAY_COR_Policy_Brief_September_20200915.pdf

Eine Antwort zu «Between the waves: Lernen aus der Coronazeit für digitale Jugendarbeit»

  1. Digitale Jugendarbeit in der Coronakrise – Und nun wie weiter? | DOJ / AFAJ

    […] der Praxis, in dem ich mich an Thesen von Eike Rösch orientiere. Formuliert er aus seiner Sicht (https://eike.io/between-the-waves-lernen-aus-der-coronazeit-fuer-digitale-jugendarbeit/), was er an Studien, Berichten, Reflexionen und Erfahrungsberichten aus der Praxis in diesem […]

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